Warum sich Veränderung manchmal falsch anfühlt
- Susanne Heil

- 9. Juli
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 10. Juli
– und wie du dein Nervensystem sanft mitnimmst
Veränderung ist notwendig. Und oft auch erwünscht, wenn wir Umstände, Situationen und uns selbst in eine positive Richtung bewegen und uns weiterentwickeln wollen.
Wenn wir tiefgreifende Veränderungsschritte machen (wollen), die vorallem unsere Persönlichkeit und gewohnte Routinen betrifft – wenn es also ernst wird –, können sich auch Zweifel, Unsicherheit oder ein subtiles Gefühl von: „Das bin ich irgendwie nicht mehr…“ melden.
Viele Menschen denken dann, sie seien zu wankelmütig, hätten nicht genug Disziplin oder würden sich selbst sabotieren. Doch was in solchen Momenten passiert, ist kein mentales Versagen – sondern ein sehr intelligenter Schutzmechanismus:
Integration Anxiety –
die Angst, etwas Neues wirklich in sich aufzunehmen und zu verkörpern.
Diese Form der Angst ist subtil – aber tief. Sie tritt auf, wenn dein System spürt:
„Etwas verändert sich gerade grundlegend. Und ich weiß noch nicht, ob ich das halten kann.“
In diesem Artikel erfährst du:
warum bestimmte Gehirnareale Veränderung als Bedrohung empfinden,
was Integration Anxiety mit deinem Nervensystem macht,
und wie du dich Schritt für Schritt sicherer im Neuen verankern kannst – ganz ohne Druck.
Das Gehirn liebt Vorhersagbarkeit
Unser Gehirn ist auf Effizienz programmiert.
Es möchte Energie sparen, Reize sortieren und aus dem Bekannten möglichst sichere Vorhersagen für die Zukunft ableiten. Aus diesem Grund verlaufen viele unserer Handlungen automatisch, gesteuert von gut eingespielten neuronalen Netzwerken.
Vertrautes Verhalten bedeutet für das Gehirn:
weniger kognitive Anstrengung
geringerer Energieaufwand
maximale Kontrolle
Sicherheit
Wenn du beginnst, dein Verhalten zu verändern – zum Beispiel, indem du deine Bedürfnisse ernster nimmst, langsamer wirst oder liebevoll Grenzen setzt –, dann wird ein bestimmter Teil deines Gehirns besonders aufmerksam: das Reptiliengehirn.
Dieser evolutionär sehr alte Bereich, auch als Stammhirn bekannt, ist verantwortlich für basale Überlebensfunktionen wie Atmung, Herzschlag, Flucht- oder Erstarrungsreaktionen.
Veränderung ist für diesen Teil des Systems jedoch gleichbedeutend mit Unvorhersehbarkeit – und damit potenziell gefährlich.
Unterstützt wird dieser Schutzimpuls vom limbischen System, vor allem der Amygdala. Sie überwacht unsere Umwelt auf mögliche Bedrohungen und reagiert besonders sensibel auf das, was neu, ungewohnt oder schwer einzuordnen ist.
Was für uns auf bewusster Ebene ein mutiger, richtiger Schritt sein mag, löst auf tieferer Ebene oft Alarm aus:
„Vorsicht – wir kennen diesen Weg nicht. Wir wissen nicht, ob wir hier sicher sind.“
Wenn du beginnst, Dinge anders zu machen
In dem Moment, in dem du beginnst, dich aus alten Mustern herauszubewegen – vielleicht weil du dich nicht mehr über Leistung definieren möchtest, weil du lernst, Nein zu sagen oder dein Leben nach deinem Tempo zu gestalten – wird dein inneres Alarmsystem wach, weil oft über Jahre eingeübte Muster an Dominanz verlieren.
Das passiert nicht, weil du etwas falsch machst!
Sondern weil dein System in Aufruhr gerät: Die bisherigen automatischen Abläufe passen nicht mehr, neue Wege sind noch nicht stabil verankert, und das Gehirn weiß nicht, ob es der neuen Richtung trauen kann.
Diese Unsicherheit führt zu einem inneren Spannungsfeld, das du vielleicht kennst als:
eine diffuse innere Unruhe
Selbstzweifel oder das Gefühl, „nicht mehr ganz man selbst zu sein“
Schwierigkeiten, neue Routinen beizubehalten, obwohl sie sich eigentlich gut anfühlen
das Bedürfnis, wieder in alte Muster zurückzufallen, einfach weil sie sicherer wirken
Diese Phase ist nicht das Problem. Sie ist der Integrationsprozess.
Integration Anxiety – die Angst, das Neue zu verkörpern
Diese innere Spannung hat einen Namen: Integration Anxiety.
Es ist die Angst davor, etwas Neues wirklich zuzulassen – emotional, körperlich und mental.
Diese Angst hat weniger mit bewusster Ablehnung zu tun, sondern vielmehr mit einem tiefen, oft unbewussten Schutzmechanismus.
Denn wenn wir etwas Neues in unser Leben bringen – ein neues Verhalten, ein anderes Denken, eine gesündere Grenze –, dann bedeutet das auch, dass etwas Altes stirbt. Und genau das kann sich wie ein innerer Kontrollverlust anfühlen, auch wenn wir die Veränderung bewusst gewählt haben.

Veränderung braucht Sicherheit und Beständigkeit
Viele Veränderungsprozesse scheitern nicht an mangelndem Willen, sondern an fehlender innerer Sicherheit.
Wer sein Nervensystem übergeht, fühlt sich schnell überfordert – oder landet in alten Mustern.
Nicht aus Faulheit, sondern aus Schutz.
Echte Veränderung geschieht nicht durch Druck – sondern durch liebevolle Verankerung in deinem Körper. Durch beständige, kleine Schritte, die deinem System zeigen:
„Ich bin sicher.
Ich muss das nicht perfekt können.
Ich darf mich umgewöhnen.“
Das Nervensystem lernt über Erfahrung, nicht über Einsicht.
Deshalb ist es so entscheidend, dass du es aktiv in deine Veränderungsprozesse mitnimmst – auf eine Weise, die es nicht überfordert, sondern stabilisiert.
Sanfte Strategien zur Nervensystem-Regulation
Was wirkt? | Warum es hilft | Wie du es umsetzen kannst |
Ruhiges Atmen (z. B. 4–6-Rhythmus) | Der Vagusnerv wird aktiviert, das System wechselt vom Alarmzustand in die Ruhe. | Atme 4 Sekunden ein, 6 Sekunden aus. 2–3 Minuten täglich – z. B. morgens oder vor Übergängen. |
Summen | Die Vibration im Kehlbereich wirkt direkt regulierend auf das autonome Nervensystem. | Summ leise auf „mmm“ oder „ng“ – spüre die Vibration im Gesicht oder Brustkorb. Am besten mit geschlossenen Augen. |
Orientierung im Raum | Aktiviert dein Explorationssystem: Wenn du dich umsiehst, signalisierst du innerlich: „Ich bin nicht in Gefahr.“ | Dreh langsam den Kopf. Schau dich im Raum um. Benenne 3 Dinge, die du siehst oder hörst. |
Neugier statt Kontrolle | Die Frage „Was lerne ich gerade über mich?“ aktiviert deinen präfrontalen Kortex – und öffnet das System für Integration. | Stell dir diese Frage 1–2x am Tag – besonders in Momenten von Widerstand oder Rückzug. |
Schlaf | Im Schlaf werden neue Erfahrungen integriert und emotionale Erregung abgebaut. | Schaffe dir ein Ritual am Abend. Kein Handy direkt vorm Schlafengehen. Atme. Komm an. |
Bewegung | Moderate Bewegung reguliert Stresshormone und stärkt die Verbindung zu deinem Körper. | Täglicher Spaziergang, leichtes Yoga, bewusstes Strecken – in deinem Tempo, ohne Leistungsdruck. |
Diese Tools sind so banal und einfach und gerade deshalb wirksam, denn dem Nervensystem und auch dem Reptiliengehirn wird dadurch vermittelt, dass "du dich gerade in Sicherheit befindest."
Mitgefühl & Ausrichtung: dich erinnern, wohin du willst
Regulationstools sind kraftvoll – sie helfen, im Moment Sicherheit zu finden, den Körper zu beruhigen und handlungsfähig zu bleiben.
Wenn innere Stimmen sagen: „Ich sollte schon weiter sein“ oder „Es müsste leichter gehen“, hilft es oft mehr, Mitgefühl zu kultivieren und sich auszurichten.
Denn während Regulation beruhigt, erlaubt Mitgefühl das Dasein. Und Ausrichtung gibt Richtung.
Ein innerer Kompass, der dich erinnert:
Was will da eigentlich wachsen – jenseits der alten Muster?
Welche Qualität möchte ich mehr in meinem Leben einladen?
Vielleicht ist es Weichheit. Vertrauen. Klarheit. Leichtigkeit. Oder Verbundenheit.
Diese bewusste Ausrichtung schafft kein Ziel im klassischen Sinne, sondern etwas Tieferes: eine innere Bewegung hin zu dem, was dir wirklich wichtig ist.
Und das gibt Mut. Und Antrieb – einen, der nicht drängt, sondern trägt.
Ich merke das selbst immer wieder: In dem Moment, wo ich weiß, wohin ich mich bewege, wird es leichter. Auch wenn’s ruckelt. Auch wenn es Zeit braucht.
Fazit: Dein System braucht nicht mehr Tempo – sondern mehr Sicherheit und Ausrichtung.
Veränderung ist kein Beweis für Disziplin, sondern für Mut.
Und Mut bedeutet nicht, ohne Angst zu handeln – sondern mit der Angst sanft weiterzugehen.
Integration Anxiety ist kein Rückfall, sondern ein Übergangsraum zwischen Alt und Neu.
Dein System verhandelt gerade, was sich künftig sicher anfühlen darf.
Wenn du dich darin wiedererkennst, sei liebevoll mit dir.
Du brauchst keine neuen Tools, keine perfekt umgesetzten Routinen.
Was du brauchst, ist ein Nervensystem, das mitkommt.
Und kleine, tägliche Signale, die sagen:
„Ich darf neu werden. Und ich bin sicher dabei.“
Wenn du dir Begleitung auf diesem Weg wünschst, findest du in meinen Workshops und 1:1-Angeboten einen sicheren Raum für genau diese Übergänge.


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